Herbstgedichte

Herbstgedichte

Dies ist ein Herbsttag …

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was von dem milden Strahl der Sonne fällt.

(Christian Friedrich Hebbel, 1813-1863)

herbstgedichte2

Herbsttag

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten reif zu sein
gib Ihnen noch zwei südlichere Tage
dräng sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr
wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird lesen, wachen, lange Briefe schreiben
und wird auf den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke, 1875-1926)

Mein Jahresausklang – Hermann Hesse – gestutzte Eiche

Mein Jahresausklang – Hermann Hesse – gestutzte Eiche

Mein Jahr war geprägt von vielen schönen Begegnungen, aber auch von Abschieden und einer Menge Unruhe – sowohl in der Welt als auch im Außen. Ich bin sicher, dass du ähnliche Erfahrungen gemacht hast oder die Unruhe ebenfalls gespürt hast.

„Das Gedicht von Hermann Hesse über die gestutzte Eiche hat mich in schwierigen Zeiten immer wieder getröstet. Es erinnert mich daran, wie man auch nach Schlägen und Widrigkeiten stark bleiben kann.“

Gestutzte Eiche

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten,

Wie stehst du fremd und sonderbar!

Wie hast du hundertmal gelitten,

Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!

Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,

Gequälten Leben brach ich nicht

Und tauche täglich aus durchlittnen

Roheiten neu die Stirn ins Licht.

Was in mir weich und zart gewesen,

Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,

Doch unzerstörbar ist mein Wesen,

Ich bin zufrieden, bin versöhnt,

Geduldig neue Blätter treib ich

Aus Ästen hundertmal zerspellt,

Und allem Weh zu Trotze bleib ich

Verliebt in die verrückte Welt.

Hermann Hesse

Wie geht es dir in schwierigen oder unruhigen Zeiten? Was stärkt dich? Gönnst du dir dann eine Pause, um zu reflektieren, innezuhalten und dich zu sammeln? Was tut dir in solchen Momenten gut, um Achtsamkeit zu bewahren und in deiner Mitte zu bleiben?

ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.


Rainer Maria Rilke, 20.9.1899, Berlin-Schmargendorf

Luise Rinser – Heute fürchte ich nichts

Luise Rinser – Heute fürchte ich nichts

Heute fürchte ich nichts,

heute zeige ich mich

freimütig schutzlos dem Tag

und wage, mich zu freuen,

weil ich lebe,

weil ich auf eine Art lebe,

die nur ich weiß und kann,

ein Leben unter Milliarden,

aber das meine, das etwas sagt,

was kein anderer sagen kann.

Das Einmalige eines jeden Lebens.

Es macht heiter, zu wissen,

das jeder recht hat mit sich selbst.

Schön ist es älter zu werden,

erlöst von sich selbst,

von der gewaltigen Anstrengung

etwas zu werden“,

etwas darzustellen in dieser Welt,

gelassen sich einzufügen

irgendwo, wo gerade Platz ist

und überall man selbst zu sein

und zugleich weiter nichts

als einer von Milliarden.

Luise Rinser